48 Stunden unterwegs mit Flüchtlingshelfern in den Strassen von Paris
Kälte. Hunger. Einsamkeit. Vor genau einem Jahr waren Dominik und ich in Paris. Dort begleiteten wir eine Hilfsorganisation, die Essen und Kleidung an obdachlose Flüchtlinge verteilt und sprachen mit Vielen. Die Reportage gilt noch heute, die Situation hat sich bis jetzt nicht verändert.
Zwei Flüchtlinge teilen sich den Platz auf einem Lüftungsschacht ©Dominik Asche
Zwischen zerfetzten Plastiksäcken raschelt es. Ratten huschen zwischen den Zelten und schlüpfen durch kleine Löcher ins Innere. Es riecht nach verbranntem Müll und Exkrementen. Unter Brücken, in Hauseingängen und auf Lüftungsschächten der Pariser Metro leben hunderte obdachlose Flüchtlinge. Der Fotograf Dominik Asche und die Journalistin Hanna Girard haben zwei Nächte lang mit Flüchtlingshelfern Nothilfe in Paris geleistet.
Montagmorgen, gegen Ende des Einsatzes, 03:30 Uhr
Es ist halb vier Uhr in der Früh, eine kalte Nacht Ende Januar. Die Temperatur liegt bei minus vier Grad. Mit klammen Fingern halte ich zwei graue Decken in der Hand. Ich starre auf eines der Zelte in der Dunkelheit. Eigentlich sollte ich die Decken verteilen, doch ich bleibe stehen. Am liebsten würde ich sie fallen lassen, zurück in den weißen Van steigen und wegfahren. Doch das geht nicht. Dominik ist irgendwo mit seiner Kamera in der Dunkelheit zwischen den Zelten. Er ist auf der Suche nach dem passenden Bild.
Ausläufe der “Colline au crack”, dem Drogenhügel, in der Nähe der Porte de la Chapelle
Seit zwei Tagen sind wir mit freiwilligen Flüchtlingshelfern unterwegs in Frankreichs Hauptstadt. Unterwegs, um zu zeigen, welche Szenarien sich in den nächtlichen Pariser Straßen abspielen.
Samstag 15:00 Uhr
Wir sind in Calvins Van im Norden von Paris unterwegs. Er ist etwa dreissig, trägt den Bart lang und die Haare kurz. Seine Partnerin Heather und er verteilen Winter für Winter Hilfsgüter an obdachlose Flüchtlinge in Frankreichs Hauptstadt. Unterstützt werden die beiden von Helfern aus ganz Europa. Der Van ist vollgeladen mit Kisten voller Brennholz. Sechs davon will Calvin an ein paar obdachlose Flüchtlinge in der Nähe der Porte de la Chapelle in Saint Denis verteilen. Die 24 jährige Helferin Fanny begleitet uns. Wir halten mit dem Auto an einer Ampel. Ein Mann in abgetragenen Kleidern, etwa Mitte 20, klopft an die Fahrerscheibe. Ich kann seine Stimme kaum verstehen. Calvin blickt zu mir herüber: „Wenn er zu deinem Fenster kommt, dann gib ihm ein Sandwich aus der Plastiktüte auf dem Armaturenbrett“. Ich nicke und ziehe eines des Brote mit klammen Fingern aus der Tüte.
Es kommt nicht zur Übergabe des Sandwichs, denn die Ampel schaltet auf Grün. Calvin brummt enttäuscht und gibt Gas.
Samstag 17:00 Uhr
Knappe 25 Kilometer von den Champs Elysées entfernt halten wir an einem Kreisel. Der Verkehr ist ohrenbetäubend. Als wir anhalten und aussteigen, müssen wir uns dicht an den weißen Van drücken, um von den vorbei rasenden Autos nicht erfasst zu werden.
Der Kreisel unter der Brücke, das Zuhause von 200 Personen
„Da sind wir“, sagt Calvin ruhig und deutet auf die Mitte des Kreisels unter den Autobahnbrücken. Im Schatten der Brücke stehen zusammengedrängt zwischen 60 und 80 Zelte: in abgewetztem Grau und Froschgrün. Zwischen den Zelten lodern offene Feuer. Sie spucken schwarzen Qualm in den Himmel. Der beißende Rauch vermischt sich in der Luft mit dem Geruch ungewaschener Kleider und Exkrementen. Fanny drückt mir schweigend eine Kiste Holz in die Hände. Ich folge ihr wortlos, unsicher, was als Nächstes passiert. Lange überlegen muss ich nicht. Menschen laufen auf uns zu. Stumm nickend nehmen sie uns die Kisten voller Brennholz aus den Händen. Hin und wieder grüsst einer der Flüchtlinge Fanny, klatscht Calvin ab, grüsst oder wirft uns einen Seitenblick zu. Ein junger Mann redet etwas abseits der Zelte mit Fanny. Leise, schnell und auf Französisch. Der junge Mann heisst Ibrahim. Er kommt aus dem Sudan und ist 21 Jahre alt. Fanny erklärt mir, dass er Hilfe mit seinen Papieren braucht. Während Ibrahim erzählt, wirft er immer wieder nervöse Blicke auf Dominik und mich. Er tritt von einem Fuss auf den anderen: Er friert. Mit der Zeit wird er ruhiger und beantwortet stockend meine Fragen. Ibrahim lebt seit über einem Jahr auf den Straßen von Paris. Sein Zelt auf der Kreiselmitte unter der Autobahnbrücke hat er vor zwei Wochen aufgeschlagen. Zuvor war eine Straße in der Nähe der Porte de la Chapelle sein zu Hause. Doch als dort vermehrt mit Crack gedealt wurde, entschied er sich, einen neuen Ort zu suchen. “Hier ist es besser”, sagt er. Ibrahim schläft mit drei Freunden in einem Zelt für zwei. “Sonst ist es zu kalt”, erklärt er. Familie hat er hier keine. Der Kreisel ist der sicherste Ort, an dem er bisher gelebt hat. Hier wird weniger gestohlen, die Polizei macht keine Razzien und es werden weniger Drogen genommen. “Paris ist schlimm”, sagt er, “Aber immer noch besser als Italien.” Als Dominik ihn um ein Foto bittet, schüttelt Ibrahim den Kopf. Seine Fingerabdrücke sind in Italien registriert. Er ist also illegal in Frankreich. “Fotos können Probleme machen”. Er schüttelt den Kopf erneut und geht den matschigen Hügel hinauf zurück zu seinem Zelt.
Samstag 18:00 Uhr
Wir sind auf dem Weg zurück. Dorthin wo die grosse Lagerhalle steht, dorthin wo die freiwilligen Helfer leben. Ich schreibe das Gespräch mit Ibrahim auf und höre Fannys beim Erzählen zu. Sie kommt aus den Banlieus von Paris. Seit mehr als einem Jahr hilft sie obdachlosen Flüchtlingen. Sie erklärt ihnen ihre Rechte, hilft bei Asylanträgen und leistet Nacht für Nacht Nothilfe. Fanny sagt, die strengen Hausregeln in den französischen Asylzentren würden dazu führen, dass viele Flüchtlinge auf der Straße landen. Viele würden unter falschen Namen registriert und so in die Illegalität abrutschen. “Alkohol, Crack und Prostitution breiten sich in Paris aus”, sagt sie und seufzt.
Samstag 21:00 Uhr
Wir sind zurück von der ersten Verteilung. Ein junger Mann sitzt auf einem der abgewetzten Sofas im Wohnzimmer. Er stellt sich vor. Mohammed heißt er. Eine Weile frage ich mich, ob er ein Flüchtling oder ein Helfer ist. Später stellt sich heraus: Mohammed ist beides. Er zeigt mir ein Video von einem überfüllten Boot auf offener See: “Auf dem Weg von Libyen nach Europa”, meint er. Freunde von ihm hätten es ihm geschickt. Mohammed kommt aus Senegal. Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Er ist ein kräftiger Mann mit dicken Lippen und einem etwas verschleierten Blick. In Senegal war er Inhaber eines Segeltuchgeschäft. In Senegal hat er eine Familie. Dort ging es ihm gut, bis die Schlepper ihn in seiner Werkstatt besuchten. „Was machst du noch hier?“ - „Schämst du dich nicht, dass du nicht in Europa bist und deiner Familie einen guten Lohn nach Hause schickst?“ - „Komm mit uns nach Europa!“. Die Schlepper redeten so lange auf Mohammed ein, bis er seinen Laden verkaufte, seine Familie verließ und nach Europa über- setzte. Er kam nach Frankreich und lebte zwei Jahre auf der Strasse. Das große Geld kam nie und seine Chancen auf einen positiven Asylbescheid sind aussichtslos. Zurück nach Senegal kann Mohammed auch nicht. Seine Scham wäre zu gross.
Schlepper überredeten Mohammed seinen Laden in Senegal zu verkaufen und nach Europa zu reisen.
Die beiden Vans sind vollgepackt. Bis zur Decke stapeln sich Hilfsgüter in den Kofferräumen. In einem ausgeklügelten System hängen links die Zelte, stehen hinten in einem großen Leinensack zusammengerollte die Duvets und liegen die Mützen und die Jacken auf einer Ablage. Die Motoren heulen im Hof auf. „Yallah!“, schreit Calvin. Ich trage drei Pullover übereinander, eine Daunenjacke, drei paar Wollsocken und friere trotzdem. Heather fährt mit ein paar englischen Freiwilligen aus dem Hof. Calvin nimmt Dominik und mich mit. Er dreht den Zündschlüssel im Schloss und fährt dicht hinter Heather her. „Don‘t be a Dick“, liest Dominik von einem Aufkleber am Heck des Autos. „Great Britain“, ergänzt Calvin und lacht leise. Wir fahren eine ausgeklügelte Route. Durch heruntergekommene Quartiere vorbei am Gare de l‘Est. Dort treffen schlafende Obdachlose auf kotzendes Partyvolk. Vor einer geschlossenen Brasserie küsst eine junge Frau mit rotem Bérét einen Mann. Wir fahren vorbei und halten abrupt, als ein Flüchtling über die Straße rennt und an Calvins Fenster klopft. Er fragt nach einem Sandwich.
Sonntag 00:30 Uhr
Wir stehen an einer Strasse und bleiben eine Weile im Van sitzen. Wir blicken durch die beschlagenen Scheiben auf die Zeltansammlung unter der Brücke. Wir steigen aus. Zögernd nehme ich die Decken, die mir Calvin reicht. Schnell werden wir bemerkt. Reißverschlüsse werden mit einem Ratschen aufgezogen und verschlafene Gesichter blinzeln uns entgegen. Es geht nicht lange, und alle Decken sind verteilt. Jetzt haben wir Zeit, um Gespräche zu führen.
Ein junger Mann, fast noch ein Kind, steht mit hochgezogenen Schultern etwas unschlüssig da. Er hält einen Suppenteller aus weißem Plastik in der Hand. Darin ist braune Suppe mit geschnittenem Gemüse darin. Ein paar Freiwillige aus Paris kochen seit zwei Monaten jeden Samstag für die Menschen unter dieser Brücke. Der junge Mann mit den hochgezogenen Schultern trägt die Kapuze tief ins Gsicht gezogen. Mehr als schmale Augenschlitze kann ich nicht sehen. Er trägt Kopfhörer in den Ohren. Als ich ihn anspreche, nimmt er einen aus dem Ohr und blickt mich an.
Ich: „Hallo“
Er: „Salut“
Ich: „Wie heißt du?“
Er: „Ali“
Ich: „Afghanistan?“
Er nickt, zuckt etwas ratlos die Schultern und zieht sich die Kapuze tiefer in die Stirn.
Ich: „Bist du allein hier?“
Ali: „Ja“
Ich: „Wie lange lebst du schon unter dieser Brücke?“
Ali: „Zwei Monate“
Ich: „Dafür sprichst du aber gut Französisch.“
Er schmunzelt verlegen, nimmt den zweiten Kopfhörer aus dem Ohr.
Er: „Findest du?“
Ich: „Ja“
Er: “Mein Freund hat es mir im Zelt beigebracht. Tagsüber lerne ich viel.”
Stolz richtet er sich auf.
Ich: „Wie alt bist du Ali?“
Ali: „17“
Ich: “Und du bist wirklich ganz alleine hier?”
Ali: “Ja. Meine Familie ist in Afghanistan. Aber ich habe ein paar Freunde hier.”
Dominik klinkt sich in unser Gespräch ein: „Ali, dann sind wir beinahe gleich alt. Wir sind 19 und 20.“ Die Dämme sind in einer Sekunde gebrochen, die Kapuze weg vom Kopf, Alis Augen wach und aufmerksam. „Woher kommt ihr? Was macht ihr hier?“, fragt Ali. Jetzt ist er hellwach. Wir erklären ihm, dass wir auf Reportage sind, dass Dominik fotografiert und ich schreibe. Ein Freund von Ali kommt neugierig hinzu. Die beiden bieten uns ihre Suppe an. Alis Freund sagt schmunzelnd er heisse „Paris“. Wir lachen und dieser Moment tut gut.
Ali und sein Freund Paris teilen sich mit drei anderen jungen Männern ein Zelt. Paris erzählt uns, dass sie gegenseitig aufeinander aufpassen, sich Französisch beibringen und scherzt dazwischen immer wieder. Auf einmal wird er ernst, hüpft nicht mehr und seine Stimme wird tief. „Die Polizei ist ein Problem“, sagt er. „Sie machen unsere Zelte kaputt. Manchmal machen sie Razzien. Ich habe am ganzen Körper Ausschläge von der Kälte und dem Zelt. Wir sind zu viele darin, aber allein erfrierst du im Zelt“, Ali nickt seinem Freund Paris zu.
Ali ist 17 und lebt allein auf den Straßen von Paris. Nach unserem Gespräch bietet er uns seine Suppe an.
In einem Park steht ein überdachter Pavillon. Seine Geländer sind mit Tüchern und Duvets abgedeckt. Die Decken schützen vor neugierigen Blicken und der Kälte. Dominik und ich erklimmen die drei Stufen. Zwischen zwölf und vierzehn obdachlose Flüchtlinge liegen auf abgewetzten Matratzen auf dem Boden. Sie drängen sich dicht aneinander um nicht zu frieren. Der Atem wabert in Schwaden durch die Luft. Ein junger Mann zu meiner Rechten richtet sich abrupt auf. Ich habe nicht damit gerechnet, dass noch jemand wach ist. “Von wo bist du? Warum machst du das? Ist das alles, was ihr dabei habt?”, redet er auf mich ein. Sein Französisch ist schnell, seine Worte undeutlich. Er trägt nichts außer einem weißen T-Shirt. “Hast du eine Jacke für mich?”, ich nicke. Dominik und ich gehen zurück zum Van. Er reicht mir eine schwarze Daunenjacke aus dem Inneren des Vans und wir kehren zurück zum Pavillon. Der junge Mann nimmt die Jacke entgegen und nickt schweigend.
Es gibt keinen Grund, danke zu sagen.
Sonntag 04:00 Uhr
Es stinkt durchdringend nach Urin. Vorsichtig staksen wir zu einer kniehohen Betonmauer. Sie trennt die Schnellstrasse von einem schmalen Streifen, wo sich ein paar Zelte an die Wand drücken. Sie rascheln im Wind der vorbeiziehenden Autos. Heather hält mich am Arm und deutet nach rechts: “Dort ist die ‘Colline au crack’”. Ich blicke auf. Zwischen schmalen Baumstämmen leuchten schwache Feuer, schwarze Silhouetten verdecken die Flammen. Dort leben die Flüchtlinge, die dem Crack erlegen sind. Hilfsorganisationen trauen sich nicht dorthin. Es ist vier Uhr in der Früh, doch auf dem Crackhügel herrscht reger Betrieb. “Sag Dominik, er soll den Boden fotografieren”, sagt Heather. Als ich meinen Blick senke, entdecke ich zwischen all dem Müll Dutzende gebrauchte Spritzen.
Calvin macht ein Handzeichen. Wir klettern über die Betonmauer, rennen, die Arme voller Decken, über die Schnellstrasse. Als ich über die Mauer auf der anderen Strassenseite klettere, landen meine Füße knöcheltief in vergoren Müll. Überall raschelt es. Ratten wuseln durch den Müll. Und zwischen all dem Müll sitzen zwei Männer. Eingewickelt in dunkle Decken, so still, dass ich sie erst gar nicht bemerkte.
Zwischen gebrauchten Spritzen, verrottetem Plastikmüll und Ratten reden zwei Männer miteinander
Sonntag 04:30 Uhr
Ein Hund bellt. Sein Bellen hallt unter hohen Brückenbögen nach. Das Licht ist grell und blendet die Augen. Unter der Brücke stehen um die 150 Zelte. Calvin hat gehört, dass eine junge Mutter mit ihrem Baby seit kurzem hier schläft. Überall brennen kleinere und größere Feuer. Junge Männer wärmen sich die Hände an den Flammen. Murmelnd unterhalten sie sich. Die Decken, die wir ihnen reichen, nehmen sie schweigend entgegen. Acht Männer, eingewickelt in acht grauen Decken, lassen wir in der Nacht zurück.
Welten treffen in Paris aufeinander - Im Hintergrund die Leuchtreklame des Novotel, im Vordergrund acht obdachlose Flüchtlinge an einem Feuer
Sonntag 00:00 Uhr
Es ist kälter als gestern. Dominik und ich sind heute in verschiedenen Vans unterwegs. Er, Calvin und Fanny fahren eine andere Route als Heather, Victor und ich.
Hanna Girard, Montag 01:00 Uhr
Heute ist alles anders. Viele der Flüchtlinge sind betrunken. Viele sind auf Drogen. Mehrere Male werden wir angeschnauzt. Einmal bremst Heather abrupt und steigt aus dem Van, um zwei Flüchtlinge zu trennen. Sie sind stark alkoholisiert und streiten sich um den Schlafplatz auf dem kleinen Lüftungsschacht. Mit vielen Worten, zwei Sandwiches und einem Duvet schafft sie es, die beiden zu beruhigen. Als wir wegfahren, schlafen sie nebeneinander auf einem Schacht, der knapp so gross wie ein Umzugskarton ist.
Dominik Asche, Montag 02:00 Uhr
Calvin fährt durch stille Wohnquartiere. Fanny kennt die Pariser Straßen gut und weiss, wo die Nischen sind, die sich als Schlafplätze eignen. Einer schläft in einem Hauseingang, ein anderer in einem Busch neben einer Haustür. Zwanzig Meter weg von der Strasse liegt ein Basketballfeld im Dunkeln. Es ist voller Zelte. Viele davon sind in goldene Rettungsfolien gewickelt und glitzern im schwachen Licht einer Strassenlampe.
Ein junger Mann sitzt vor dem Basketballfeld an einem offenen Feuer. Er trägt Kopfhörer. Wie ein Wachmann sitzt er vor dem Feld. Er friert und wärmt seine Hände an den Flammen. Fanny bringt ihm eine Mütze, Handschuhe und einen Schal. Ich habe kurz Zeit, mit ihm zu sprechen. Er ist neunzehn. Als ich ihn frage, ob ich ein Foto von ihm machen darf, nickt er. Er ist sehr müde.
Der junge Mann ist 19 Jahre alt. Er hält Nachts Wache vor dem Basketballfeld.
Montag 03:00 Uhr
Dominik und ich treffen beim Camp auf dem Kreisel wieder zusammen. Dort, wo wir am ersten Tag Ibrahim trafen und Holz verteilten. Winzige Schneeflocken wirbeln im Wind. Etwa zwanzig Männer stehen um die beiden weißen Vans. Calvin hält die Türen der Fahrzeuge geschlossen. Er will nicht, dass sich die Flüchtlinge selbstständig an den Hilfsgütern bedienen. Zu oft hat er Hilfsorganisationen beobachtet, die sich so ein Eigentor schossen. Die Männer fragen unablässig nach Schuhen. Immer und immer wieder. Und als wir sagen, dass wir keine mehr haben, beginnt die Stimmung zu kippen. Victor diskutiert rege mit einem der Flüchtlinge, doch ihr Gespräch dreht sich im Kreis. “Warum habt ihr keine Schuhe?”, “Warum?”, “Warum?”.
Jemand fasst mich am Arm. Als ich mich umdrehe blicke ich in ein Gesicht, das noch keine sechzehn sein kann. Ein Junge mit einer Mütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hat, blickt mich an. “Warum hat er eine Kamera?”, flüstert er immer wieder leise auf Englisch und deutet mit dem Finger auf Dominik. “Wir schreiben eine Reportage für die Zeitung”, erkläre ich ihm. Er nickt. “Aber warum hat er eine Kamera?”, er zupft an meinem Ärmel. Ich beruhige ihn, “Er wird dich nicht fotografieren, keine Angst”. Er beruhigt sich nur langsam. “Ich brauche Schuhe”, flüstert er. Seine eigenen sind mehr Sohle als etwas anderes. Ich kann seine Zehen in der Dunkelheit sehen. Eigentlich verteilen Calvin und Heather keine Schuhe, doch als sie den Jungen sehen, nicken sie. “Welche Schuhgrösse hast du?”, Calvin verschwindet im Van und reicht dem Jungen einen schwarzen Plastiksack. “Hier. Einmal 45”, sagt Calvin leise. “Mach den Sack erst im Zelt auf. Wenn die anderen sehen, dass du als Einziger Schuhe bekommen hast, dann haben wir ein Problem”. Der Junge nickt und verschwindet hinter dem Van.
Er kommt noch dreimal wieder. Die Schuhe wollen und wollen einfach nicht passen. Ich kann sehen wie Calvin zunehmends nervöser wird. Er versucht den wütenden Mob, der auch nach Schuhen verlangt, von dem Jungen abzulenken. Nach dem dritten Versuch passen die Schuhe. Calvin atmet auf. Und ich versuche Victor aus seiner Diskussion mit dem hartnäckigen Flüchtling zu befreien.
Montag 05:00 Uhr
Wir sind zurück bei Heather und Calvin. Draussen wird es gerade hell. Still sitzen wir auf dem Sofa. Die zwei Tage auf den Straßen von Paris sind durch. Dominik und ich haben unser Material. Wir können jetzt gehen. Die freiwilligen Helfer erwartet morgen wieder dasselbe Szenario. Müde sitzen wir um einen kleinen Tisch, trinken heiße Schokolade mit Whiskey und finden keine Worte für die letzten zwei Nächte.
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