Gedanken über Liebe und Alleinsamkeit
Illustration: Friede Lotte
Als ich mir vier Stunden lang im Stau vor dem Gotthardtunnel das linke Bein auf der Kupplung taub strampelte, hätte ich nicht erwartet, dass ich eine Woche später, beim Gedanken an den Italienaufenthalt an Liebe denken muss. Es hätte genauso gut Pizza sein können, oder Regen, Gewitter, das Wetterleuchten am zweiten Abend.
Wir fuhren nach Italien als Freunde, so der Vorsatz und so auch geschehen. Dass ich mich mit meinem grünen Neulenkerausweis auf die Strasse nach Italien wagte, beweist, wie viel Sicherheit Ernst mir gab. Er wusste davon nichts. Ich nenne ihn Ernst, wie das Adjektiv, weil ich denke, dass es ihn ganz gut beschreibt.
Wir fuhren als Freunde, weil wir zuvor wohl mal mehr waren als das – oder weniger.
Der Frühling hatte unserer jungen Bekanntschaft die Frische einer Liebesgeschichte verliehen. Ernst würde sagen, sie war eine kurze, traurige. Für mich war sie lehrreich. Unsere Liebelei verebbte in den kurzen vier Monaten, die wir uns schenkten. Seine Liebe war sehr schnell verflogen, meine blieb zurück. Sie lungerte vielleicht etwas hoffnungsvoll, dass er sich besinnen würde. Ich war mir sicher Ernst würde Liebe nicht erkennen, würde sie ihm in die Nase beissen. Er suchte das Grosse, er war verliebt ins Verliebt-sein und blind der Liebe gegenüber. Ich masste mir an, ihm anzusehen, dass er mich auch liebte.
Die Wochen, die den Frühling von Italien trennte, waren gezeichnet von der Gewissheit, dass Ernst nicht mich wollte, sondern eine andere. In dieser Zeit hatte sich meine Wärme für ihn gewandelt. Nicht abgekühlt, aber auch nicht mehr lodernd war sie nicht mehr grösser als ich. Die Liebe, die ich für ihn hegte, war spürbar gewesen; so einnehmend, dass sie schmerzen musste und der Schmerz Zeichen ihrer Lebendigkeit. Zum zweiten Mal in meinem Leben hatte ich zu sehr geliebt. Diese Liebe war alles Leid fraglos wert.
In Italien teilten wir uns ein Zimmer und ein Bett. Wir erreichten das Hotel nach einer siebenstündigen Fahrt, vier davon standen wir im Stau. Es roch nach altem Holz, der Steinboden war kalt, das Zimmer ausladend und der Balkon bot Aussicht über die Häuserdächer und Dachterrassen Verbanias. Im Hintergrund stiegen grüne Hügel den Horizont empor. Am ersten Abend assen wir Pizza an der Promenade zum See und tranken Wein. Ernst trank rot und ich weiss. Im Nachhinein gebe ich zu, dass der Rote besser zur Pizza passte. Während unseres abendlichen Spaziergangs wurde mir klar, dass ich nie zuvor alleine mit einem Mann in den Ferien gewesen war – auf unromantische Art. Der Lago Maggiore drückte sanft gegen das Ufer als wir den Heimweg antraten.
In den Wochen zwischen der Zurückweisung und Italien lernte ich einiges über mich: 1. Würde ich nicht so schnell aufhören, einen Menschen zu lieben, dem ich immer noch so viel Raum in meinem Leben widmete, wie Ernst ihn einnahm. 2. Musste ich mir eingestehen, dass ich romantische Beziehungen anders einordnete als andere Beziehungen in meinem Leben. Romantische Liebe war für mich eine Idealvorstellung.
Wenn ich an die Tage in Italien denke, denke ich an Liebe: Wie Ernst und ich die Freiheit Italiens liebten, wie ich den Sommer liebte und im Sommer geliebt hatte. In diesen Tagen lernte ich, ich war freier alleine. Das was Ernst und ich nun teilten, war eine Liebe, in der ich mich nicht verlor. Sie brauchte die Schranken einer Freundschaft.
Sei das, was zurück kam noch so klein, mir würde es genügen.
Ich hatte genug Liebe für zwei. Fiele sie zusammen, so müsste ich ganz viel reparieren. Wann immer sie auseinander fiel, gab es tatsächlich viel zu reparieren.
Unsere Zeit in Italien verbrachten wir damit, viele Dinge nicht zu tun. Wir liefen am zweiten Tag unseres Aufenthalts eine Stunde durch die Stadt. Das Ziel des Fussmarsches war der Botanische Garten Verbanias. Als wir gegen Mittag dort ankamen, tranken wir zu teure Limo auf schicken Polstermöbeln im Garten des Kaffees. Eine halbe Stunde später standen wir nachdenklich erneut vor dem Tor des Gartens, auch nach Limo und Fussmarsch war uns der Eintritt zu teuer. Wir gingen unverrichteter Dinge, kehrten den Pflanzen den Rücken und liefen Richtung See. Unser Weg führte uns an einem kleinen Hafen vorbei. Wir nahmen ein Schiff, um uns die Isola Madre anschauen. Das Deck des Schiffs war blau mit weissen Stühlen. Wie ein Spiegelbild des Himmels. Es war blau und weiss wohin man blickte. Wie genau die Insel aussah, kann ich nicht sagen. Dass der Eintritt 17 Euro pro Person gekostet hätte, weiss ich noch ganz genau. Ernst und ich schlichen am Personal vorbei und verbrachten unseren Nachmittag an dem Teil des Strands, der nicht für die Besucher hergerichtet war. Dunkle Wolken trieben uns gegen Abend aufs Festland zurück.
Am dritten Tag wurden wir körperlich. Wir hattet den Tag in der Innenstadt verbracht, waren halsbrecherisch mit einem E-Sooter hin und zurückgefahren über brüchigen Asphalt, um in der Stadt einkaufen zu gehen. Wir kehrten zurück, ohne etwas gekauft zu haben. Es war ein glücklicher Tag gewesen, das Leben war langsamer in Italien und erneut trieb uns das abendliche Unwetter in die Wärme des Hostelzimmers zurück. Als wir merkten, dass wir wohl über Sex reden sollten, sass ich auf seinem Schoss. Schwere Tropfen trommelten gegen das Fenster. Im Hintergrund leuchtete der Himmel unaufhörlich auf. Ab und an donnerte es. Die Entscheidung war keine leichte, wir waren noch nicht lange Freunde und es schien vieles auf dem Spiel zustehen. Auch fehlten die Kondome. Kurz darauf waren Ernst und ich im Auto. Wir fuhren zu einem dieser Apothekenautomaten, denen man auch noch um 23 Uhr abends auf den Wecker gehen konnte. Es regnete immer noch im Strömen, aber wir hatten uns entschieden. Italien hatte uns einander wieder näher gebracht. Alles was wir taten, taten wir in Freundschaft. Wir waren zwei Fremde in Italien und hatten uns gemeinsam in die Freiheit verliebt. Am nächsten Morgen taten wir es nochmals am Strand.
Wenn ich an die Tage in Italien denke, denke ich an Liebe: Wie Ernst und ich die Freheit Italiens liebten, wie ich den Sommer liebte und im Sommer geliebt hatte. In diesen Tagen lernte ich, ich war freier alleine. Das was Ernst und ich nun teilten, war eine Liebe, in der ich mich nicht verlor. Sie brauchte die Schranken einer Freundschaft. Ich opferte mich nicht mehr auf, um liebenswert zu sein.
Ich sah mich neben ihm als Individuum. Wir waren jeder für sich und füreinander alleine - manchmal einsam befreit.
- Friede Lotte
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