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  • AutorenbildLeonne Voegelin

Post aus Berlin - Verschlungene Wege der Distanzen

In der Berlin gibt es vier verschiedene öffentliche Transportmittel: Tram, Bus, U-Bahn und S-Bahn.


Ein Tram habe ich noch nie betreten. Gibt’s da einen Grund ? Nicht wirklich. Vielleicht gilt das Versäumnis dem begrenzten Einzugsgebiet, in welches das Tram seine Runden zieht? Denn Trams gibt’s nur im ehemaligen Ostteil der Stadt. Andere Verkehrsmittel scheinen da schier grenzenlose Gebiete zu bedienen.


Busse versuche ich möglichst zu vermeiden. Und das empfehle ich all jenen, die mit plötzlichen Fahrplanabweichungen nichts anfangen können, denn der Verkehr ist ein jämmerliches Bushindernis.


Die S-Bahn dreht ihre Runden in unermüdlichem Fleiss um die Stadt und durch die Stadt. In ihrem eigenem Tempo hetzt die gelbe-rote Schlange von einem Bahnhof zum nächsten. Ihr regelmässiges Rattern begleitet die Menschen durch Stadt und Land, lässt abwechslungsreiches Grün und farbsüffige Landschaften vor den Scheiben vorbei ziehen – Scheiben, die angesichts ihrer Gestaltung monumental und flächendeckend die Sicht versprenkeln. Auf der ganzen Scheibe ist das berühmte Warenzeichen der Berliner gedruckt: das Brandenburgertor.


Und dann ist da noch die U-Bahn, das Herzstück der Distanzüberwindung (und eines der grössten Netzte der Welt). Schnell, mobil, geschmeidig windet sie sich unter dem Stadtgewimmel durch. In dunklen Gängen, zwischen den U-Bahnstationen. Sie verleiht der Stadt seit 1902 die Geschwindigkeit, die ausserhalb der Schächte kaum anzutreffen ist. Und das Phänomen der Orientierungslosigkeit nach dem Auftauchens aus dem Dunkeln und sich an einem neuen, unbekannten Ort wiederzufinden.

Vorzüglich nachvollzieh- und erlebbar ist das am Potsdamerplatz | Leibzigerplatz in Berlin Mitte. Das Rundum-Panorama der hohen, verglasten Vertikalen (wie der Potsdamer Platz 11) und das Sonnenlicht, das sich im vielen Hightech reflektiert und die Schmerzgrenze der Augen erreicht, erscheinen noch imposanter.



1) Alexanderplatz 2) Gleisdreieck 3) Gneissenaustrasse 4) Onkel Toms Hütte

5) Kurfürstendamm 6) Bismarckstrasse 7) Westhafen 8) Olympia-Stadion

9) Prinzenstrasse



 

Es gehört zu den grossen Herausforderungen des Berliner Alltags, sich von A nach B zu bewegen. Es erweist sich als beinahe unmöglich sich pünktlich zu treffen: Nirgendwo ist die Bedeutung „der Weg ist das Ziel“ so spürbar wie hier. Alleine die Wegzeit, wenn sich das Rendezvous nicht gleich um die Eck befindet (was trotzdem 20 Minuten Weg bedeutet), verlangt eine enorme Beweglichkeit und viel zeitlichen Spielraum. Die Berliner*innen scheint das nicht zu kümmern. Sie haben ihre eigene Mentalität zu diesem „in between" entwickelt. Es ist eine Verlängerung des Wohnzimmers. Morgens sieht man Menschen mit ihrem Müesli im Weckglas oder mit Butterbroten, halbverschlafen in einer der U-Bahnen mit farbig gesprenkelten Sitzbänken sitzen, Berliner-Morgenpost oder Bücher lesend, ihren Kaffee schlürfend oder ihre Morgentoilette beendend.


Die Anwesenheit der Zeit und die zurückzulegenden Strecken sind ein seltsames Phänomen – eigentlich sollten sich Wege immer gleich anfühlen und tun es doch nicht.

Das Zeit-Distanzen-Verhältnis scheint in Berlin deformiert zu sein. Es gehört zum Alltag, viel Zeit für den Weg aufzubringen und dabei zwei, dreimal Transportmittel zu wechseln. Und trotzdem, nie befällt mich das Gefühl, auf Weltreise zu sein, nie überkommt mich Langeweile.

Oft sitze ich in der U-Bahn, fahre meine Dreiviertelstunde-Strecke und denke: in der Schweiz wäre ich, bei gleichem Zeitaufwand bereits in der nächsten Stadt angekommen. Da fühlt sich die Zugfahrt von Basel nach Zürich an gewissen Tagen wie eine Ewigkeit an. Die Strecken, die ich hier auf mich nehme, nur um eine Ausstellung zu besuchen, jemanden zu treffen, oder auf einen Geburtstag anzustossen, nehmen gleichviel Zeit in Anspruch, sie fühlen sich jedoch erfrischend kurzweilig an. Ich frage mich, an was das wohl liegen mag: Ein mentaler Zustand – der Umstand, dass man die Stadt nicht verlässt – eine höhere Frequenz an Geschehnissen – Türen auf Türen zu, Leute rein Leute raus - die Absenz von Kontext (zumindest in der U-Bahn, da man unter der Erde ist) ? Ich weiss es nicht.


 

Die U-Bahn ist nicht vergleichbar mit der Metro von Paris oder der Underground Londons.

Sie ist direkt, offen und einfach.

Kein ewiger Fussmarsch, um das Gleis zu finden und kein kilometerlanges Laufen, um auf die nächste Bahn umzusteigen. Die U-Bahn ist frei passierbar und beschaulich: Von der Strasse her steigt man die Treppe runter und befindet sich auf dem Gleis – hier begegnet man keinen Menschenschlangen vor elektronischen Eingängen, kein Warteschlangen und verläuft sich nicht in den Weiten des Untergrunds - die Ausnahme bestätigt die Regel:

So fand ich mich am Herrmannplatz plötzlich in einem Einkaufszentrum wieder, als ich den Ausgang finden wollte - denn offensichtlich besteht zwischen Hermannplatz | U-Bahn und der Ladenkette Karstadt eine direkte Verbindung.

Doch in den meisten Fällen ist die U-Bahn unkompliziert und clever.

An regnerischen und kalten Tagen ist sie eine Unterkunft und dies in einer wunderschönen Kulisse. Viele Stationen sind farbenprächtige, einzigartige Räume. Teils in Keramik ausgekleidet, aus vergangener oder moderner Zeit, von der schlichten Ästhetik der Nachkriegszeit und dem Ausgefallenen der 70er Jahre, mit Eigencharme und Wärme (im wörtlichen Sinn, ist dies ein Zufluchtsort vor dem rauen Wetter). Ein Teil Stadtgeschichte, jede mit seinem eigenen Dekor (1).

Und in diesem bewegt sich die Gelbe rhythmisch in ihrem immer verlässlichen Takt.



Die BVG (Berliner Verkehrsbetrieb) bewirbt sich nun als Weltkulturerbe.




  1. Für einen tieferen Einblick in die Gestaltung der U-Bahnhöfe gibt es hier einen Artikel über eine vergangene Ausstellung zu dem betreffenden Thema. https://www.tagesspiegel.de/berlin/ausstellung-in-kreuzberg-das-erzaehlen-die-u-bahnhoefe-ueber-berlins-geschichte/24009782.html

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