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  • AutorenbildLeonne Voegelin

Post aus Lausanne – Von einer Woche der anderen Art


Es gibt zwei Wochen im Jahr, welche auf das ganze restliche Jahr Resonanz ausüben. Wochen des maximalen Ungesundheitsstadiums, des Stresses, “Nicht-Schlafens” und “essens was man noch so zwischen den Bankritzen findet”. Es sind die Endwochen des Semesters. Die Tage vor der finalen Abgabe des Projektes – dem Herzstück des Studiums. Wie ein Raunen geht das Wort im SG, dem Architektur-Traktes der EPFL, vom ersten Tag an durch die Gänge: La Charrette.


Dieses Wort hat keine Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch. Eine alte holzige Schubkarre bezeichnet la charrette auf französisch. In jeglichen anderen Schulen wird man mit Unverständnis gemustert, wenn man voller Ehrfurcht von dieser erzählt. Denn sie übt eine gewisse Faszination auf uns aus. Man möchte Teil sein dieses Ereignisses. Möchte wissen, was es ist. Es werden Geschichten ausgetauscht, fast schon kompetitive Vergleiche angestellt und auf sie hin gefeiert. Mit etwas Respekt und eigentlich Unlust, denn es ist wahrheitsgemäss nicht gerade die beste Zeit für die Psyche. Es sind die Euphorie und die Erwartung, welche einen jedes Semester aufs Neue aufputschen lässt.


La Charrette, der Ausdruck, welcher bei uns kursiert, geht auf die “Ecole des Beaux-Arts” in Paris zurück. Dort wurden am Ende des Jahres die Modelle auf einer hölzernen Schubkarre, der Charrette, durch die Pflasterstein besetzten Strassen Paris gekarrt, um diese in den Ausstellungsraum zu transportieren. Es war das Finale eines arbeitsreichen Jahres. Der Ausdruck être charrette bedeutet so viel wie: eine Person, die mit Arbeit in Eile überfordert ist.


https://www.nymeo.com/l-origine-de-l-expression-etre-charrette
la Charrette im Innenhof der Beaux-Arts, Gazette St-Germain-des-Prés, 09.1965(1)

Bei uns sind es die zwei Wochen am Ende des Semesters, welche ausschliesslich dem Projekt gewidmet sind und dessen Präsentation vor einer Jury. Es werden teils Konzepte über den Haufen geworfen und neue angefangen. Es ist die Zeit in welcher wir, oder zumindestens ich, dem nachgehe, weshalb man Architektur studiert. Eine praktische Synthese des Gelernten.



Anfangs der Charrette suche ich mir meinen Computer im Informatikraum aus – denn ein guter Platz ist Gold wert. Etwas natürliches Licht, ein wenig Kontakt zur Aussenwelt, sehen wie der Tag vergeht und sich nicht in der Zeit verlieren. All dies hängt von seinem Platz ab. Er wird mein Wohnort für die nächsten Wochen. Man arbeitet, bastelt und plant seine Zeit durch, um alles vor der Abgabe zu erledigen. Doch die Planung verfehlt man schon nach dem ersten Anlauf, alles scheint dreimal länger zu dauern als geplant und man endet in einem Endspurt der Meisterklasse. Und auch wenn man mal das gute Gefühl hat, zwei Tage vor der Abgabe gut in der Zeit zu liegen, so endet man in einen Endspurt der Meisterklasse. Es scheint unumgänglich zu sein.


Mit der letzten Energie, meist aus Nervosität und Adrenalin zusammengebraut, schleppt man sich vor die Jury und präsentiert seine Arbeit. Danach braucht man eine Pause. Einen langen Morgen – wobei mir dies meist schwer fällt nach einem so durchrüttelten Schlafrhythmus – Vitamine und ein grosses Nichtstun.


Doch obwohl die Zeit, wenn man sie resümiert, aus Arbeiten, Nicht-Schlafen, Stress und Kopfschmerzen besteht, reizt sie einem jedesmal wieder. Denn dazu kommen all die erlebten Geschichten, die ausgetesteten Grenzen und die Glücksmomente, wenn man dann nach stundenlangem hin und her Schieben die Lösung findet. Und wenn wir ganz ehrlich mit uns sind, so erzählen wir danach gerne, und auch mit etwas stolz in der Stimme, wie viele Nächte man durchhielt ohne zu schlafen und wie knapp vor Schluss man noch einmal eine Änderung vornehmen musste.

Doch dahingehend kann ich behaupten, das „Alter“ lässt einen weise werden, denn dieses Jahr scheint der Sturm und Drang abgenommen zu haben. Doch vielleicht liegt das auch an der momentanen, eher ruhigen und aus ause bestehenden Situation und den eingeschränkten Möglichkeiten.









(1) https://www.nymeo.com/l-origine-de-l-expression-etre-charrette



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