“Früher war alles besser”: Gastautorin Elena hasst diesen Spruch. Vielleicht einfach, weil sie eifersüchtig ist, dass früher alles besser war und sie noch nicht dabei sein konnte. Elena blickt zurück auf alte Erinnerungen und sehnt sich nach den «alten Zeiten» in Utopia zurück.
Illustration: Pia Zibulski
Ich wurde in Utopia geboren, wuchs dort auf und lebte dort einen Teil meines Lebens. Ich konnte nicht sein, wer ich wollte. Ich war wer ich wollte. Mal so mal so. Doch allzu lange hielt ich es dort nicht aus. Obwohl, das stimmt nicht. Ich glaube nicht, dass es irgendwen auf dieser Welt gibt, der es in Utopia nicht aushält. Ich wurde besser gesagt aus Utopia herausgerissen. Ich zog um. In ein Randgebiet von Utopia. In einen kleinen Vorort. Von dem aus sah ich, was ausserhalb geschah, war jedoch immer noch zu nahe an Utopia, dass ich alles realisierte. Lieber sah ich in Richtung Utopia.
Mit fünf zog ich noch etwas weiter nach aussen. An den äusseren Rand des Vorortes. Immer noch schön, jedoch nicht zu vergleichen mit Utopia. Aber die meiste Zeit nahm ich den Zug und fuhr in die Landesmitte. Und ich war wer und was ich wollte. Mit fünf war ich ein Genie. Meine Mutter erklärte mir, was es mit der Klimaerwärmung auf sich hat und was für Folgen die Löcher in der Ozonschicht haben. Und dass die Eisbären aussterben werden. Mein genialer Verstand hatte eine Lösung für dieses Problem. Man musste bloss ein Feuerwehrauto mit einer langen Leiter organisieren und eine Platte Ozonschicht im Baumarkt kaufen. Problem gelöst. Ich erinnere mich an das Bild, wie ich mir das Ganze vorgestellt hatte. Doch so einfach war das leider doch nicht und die Eisbären starben weiter.
Mit sieben war ich schnell. So richtig schnell. Ich rannte und rannte und rannte und war einfach bloss schnell. Ich liebte die immense Geschwindigkeit, die ich aufbringen konnte. Und ich glaubte auch fest daran, dass ich schneller war als der Junge, der mir drohte, mich nach der Schule zu schlagen. Zum Glück kam es nie so weit, denn ich bezweifle heute, dass ich wirklich schneller war.
Ich war mal ein Karate-Kid, das jeden Entführer mit links bezwungen hätte. Doch da waren diese roten, traurigen Smileys auf meinen Deutsch-Arbeitsblättern, die mir den Schlaf raubten, da ich weder Rechtschreibung noch Grammatik beherrschte. Und am schlimmsten waren Artikel. Ich weiss noch, wie ich zum ersten Mal in meinem Leben gespickt habe. Ich meine nicht einfach abgeschrieben. Nein, ich habe mir eine unauffällige Methode ausgedacht. Mit blauem Filzstift habe ich mir gross “DIE Butter” auf die Hand geschrieben, dass man es aus 100 Metern Entfernung gesehen hat. Aber ich wurde nicht erwischt. Ich war cool und mutig.
Dann wurde ich älter. Und da fehlen mir irgendwie die Erinnerungen. Ziemlich beängstigend, aber ich kann mich weder daran erinnern, wer ich war oder sein wollte, noch was mich weiter weg von Utopia brachte. Ich war wahrscheinlich einfach eine Schülerin, die Angst von ihrem Mathelehrer hatte und sich mit basic Sachen beschäftigte. Danach wurde ich irgendwie einfach ich.
Illustration: Pia Zibulski
Ich bin nicht mehr schneller als Usain Bolt, bin kein Karate-Kid mehr und auch kein Genie. Vielleicht habe ich Utopia nun ganz verlassen. Ich komme auf die Welt. Und das klingt jetzt sehr düster, da ich die Welt in Kontrast zu Utopia stelle. Doch ich glaube nicht, dass die Welt der Kontrast zu Utopia ist. Okay, manchmal, doch das will ich eigentlich nicht glauben. Die Frage ist, ob es Utopia überhaupt gibt. Ob ich Utopia verlassen habe oder nie dort war. Wie viel von meinen Erinnerungen sind ausgedacht? Fand ich es damals nicht genau gleich schlimm, als ich manchmal gerade zwei rote Stempel auf meinen Blättern hatte, wie ich es heute schlimm finde, wenn mir jemand “Geile Titten!” hinterher ruft? Ich weiss nicht, ob ich auf die Welt kommen will. Packt mich das Ganze nicht in Plastikfolie, in eine Art Machtlosigkeit? Ich glaube das Schwierige daran, auf die Welt zu kommen, ist nicht die Tatsache selber, sondern zu lernen damit umzugehen. “Du muesch es eifach akzeptiere”, sagen viele. Doch es stimmt nicht. Ich akzeptiere es nicht einfach, wenn jemand etwas über meine Brüste sagt oder Leute abgezockt werden. Und es geht nicht darum, dass ich jetzt lernen muss, die Gesellschaft so zu akzeptieren, wie sie ist. Ich muss bloss lernen, damit umzugehen. Und Utopia vergessen. Ich glaube Rutger Bregman würde verzweifeln, würde er meinen Text hier lesen. Der Autor von Im Grunde gut zeigt in dem Buch mit wissenschaftlichen Experimenten auf, was wir für ein schlechtes Bild unserer Spezies haben. Wir halten uns für misstrauisch, egoistisch und einfach im Grunde schlecht. Wir sehen uns und andere schlechter als wir sind.
Ich weiss, der Titel klingt etwas Guru-mässig, aber es geht in dem Buch keinesfalls darum, den Menschen zu heroisieren. Es geht bloss darum, uns zu verstehen. Wie Rutger Bregman in seinem Buch erklärt, hat es einen Grund, weshalb wir die Gattung Mensch sind, die sich durchgesetzt hat. Ich finde den Gedanken ziemlich unheimlich, dass es verschiedene Arten des Menschen gleichzeitig gab. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gewesen sein muss. Fakt ist aber, dass Neandertaler zwar schlauer und kräftiger waren als wir, der Homo Sapiens. Die Neandertaler waren aber ziemliche “Assis”. Wir hingegen rannten unseresgleichen nach und teilten unser Wissen, währenddem der Neandertaler sein Wissen für sich behielt. Wir sind also, wie wahrscheinlich viele während Corona gemerkt haben, sehr sozial. Wir wohnen in Dörfern und Städten zusammen, um möglichst nicht alleine zu sein. Wir bilden eine Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die durchaus zu sehr Gutem fähig ist. Es gibt so viele Menschen, die ich nicht kenne, mich trotzdem berühren oder zum Lachen bringen. Und ich zweifle immer mehr daran, dass ich Utopia je betreten habe. Es kommt mir vor, als würde einfach alles klarer werden, je näher ich komme, je älter ich werde, es wird immer klarer. Ich sehe mehr Dinge, schaue genauer. Und genau so sehe ich mich genauer. Ich sehe mich immer mehr, wie ich bin. Ich bin nicht mehr schnell oder ein Genie. Vielleicht ist das viel erschreckender als die Gesellschaft. Die Machtlosigkeit in gewissen Dingen. Und vielleicht gehört es zum auf die Welt Kommen dazu, zu lernen damit umzugehen.
Und auch wenn ich noch nie in Utopia war, will ich dort hin. Es gibt kein Utopia für alle. Müsste ich mein Utopia mit meinem Bruder teilen, würde mir 24/7 laute Musik in den Ohren dröhnen. Das wäre es dann mit meinem Utopia. Ich glaube schlichtweg nicht daran, dass ein Utopia für alle möglich ist. Jeder muss sein eigenes finden und erschaffen. Und vielleicht überschneiden sich diese ja.
Illustration: Pia Zibulski
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