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  • AutorenbildGastbeitrag

Mein erstes Mal hatte ich mit 26


Also nicht dieses erste Mal. Sondern mein erstes Mal mit Rock auf einer Bühne. Einen Monat bevor Queen Elizabeth ins Gras biss, krönte ich mich im SchwuZ selbst als Queen. Als Drag Queen.


Foto: Yannick Bellotto, Animation: Pia Zibulski


Ein Monat zuvor besuchte ich erstmals die „Drag Open Stage“ im SchwuZ in Berlin. Als halb geouteter queerer junger Mann, ging ich in den ältesten queeren Nachtclub Deutschlands. Die Drinks waren Süss, die Bühne klein und die Deko freizügig. Ein beflügelter Penis und eine Vulva, die in allen Farben des Regenbogens blinkte, waren nur ein kleiner Teil des Ambientes. Und doch fühlte ich mich sehr sicher. Ich hatte sogar einen Rock an. Es war das erste Mal für mich, dass ich in einem Club Kleidung trug, die die Gesellschaft den Frauen zuordnet. Kein Schwein hat es interessiert. Es war ein grossartiges Gefühl.

Der Club war nicht sehr voll, als die Show anfing. Die ersten Kings und Queens und auch non-binäre Drag-Menschen zeigten, was sie können. Von kaum geschminkt bis hin zu tonnenweise Make Up; alle Schminkstufen waren vertreten. Staunend dachte ich mir: „Das will ich auch!“ Das Publikum war unterstützend, laut und herzlich. In meinem Kopf konnte ich mich auf der Bühne sehen. Extrovertiert, frech, sexy, tanzend. Vier Worte, die ich selten bis nie mit mir verbinde. Nach kurzem Austausch war ich schliesslich für die nächste Show als Lotti Lotti a.k.a. Lusty Lotti gebucht.

Der Monat verging viel zu schnell. Nach unzähligen Besuchen im Frauenabteil für Übergrössen im Secondhandladen hatte ich mein Outfit ready. Bei den ersten beiden Besuchen traute ich mich gerade noch, die Blusen zu beäugen, beim zehnten Mal konnte ich problemlos mit einem Kleid in die Umkleide gehen.


Meine Tipps für die Queens von morgen lauten:


• Geht gleich nach der Ladenöffnung einkaufen, dann sind kaum Menschen da.


• Nehmt euch direkt zu Beginn einen grossen Mantel. Damit könnt ihr die Röcke und Kleider, die ihr anprobieren wollt, auf dem Weg zur Kabine darunter verstecken.


• Nehmt einen lieben Menschen mit, der euch unterstützt und euch Feedback geben kann.


Im besten Fall braucht ihr diese Tipps nicht. Ich wünsche euch, dass ihr den Mut habt, selbstbewusst in die Frauenabteilung zu stolzieren und den Menschen zeigt: „Ja, ich bin ein Mann. Ja, ich kaufe einen Rock.“ Es braucht unbedingt solche Menschen. Aber viele haben diesen Mut (noch) nicht.


Auf jeden Fall war mein Outfit nun bereit. Inklusive einer Überraschung zum Schluss.

Der grosse Tag kam schneller, als mir lieb war. Acht Minuten auf der Bühne und 25 Euro Gage (plus 10 Euro für Getränke) wurden mir geboten. In der Umkleide angekommen, begrüsste ich die anderen, die heute ebenfalls auf die Bühne wollten. Alles ganz wunderbar nette Menschen. Menschen mit allerlei Herkünften, Geschlechtsidentitäten und Begabungen. Ich freute mich wie ein kleines Kind. Auch fühlte ich mich wie damals, im neuen Kindergarten, als mich meine Mutter hinbrachte, während alle anderen bereits alleine hingingen. Denn während alle anderen Drags sich selbst schminkten und fertig machten, wurde ich von meiner Partnerin hübsch gemacht. Schliesslich setzte ich mir die Kontaktlinsen ein, lackierte meine Fingernägel, zog mich um, entfernte den Nagellack wieder, klebte mir künstliche Nägel auf und lackierte diese erneut. Doch etwas hatte ich mir nicht überlegt: Die künstlichen Nägel waren vielleicht zwei Zentimeter lang, fühlten sich aber an wie 20. Ein harmloser Toilettenbesuch war nun eine Herausforderung. Hilflos versuchte ich mir die Schuhe anzuziehen als es hiess: „The show starts in ten minutes“.

Schon oft stand ich vor Publikum. Auch schon oft alleine. Jedes Mal begleiten mich Lampenfieber und Nervosität. Doch dieses Mal war es anders. Noch nie stand ich ohne Instrument auf der Bühne. Keine Gitarre, keinen Bass, nicht mal eine Ukulele konnte ich in meinen zittrigen Händen halten. Also holte ich mir ein Glas Wein, klebte mir die 3 abgefallenen Kunstnägel wieder auf und machte ein paar Übungen, die mich ein wenig beruhigten. Ich gab dem Sound-Engineer meine zwei Backing-Tracks und wartete schliesslich darauf, dass mich die Drag Queen Matthew Peach ansagte.

Typisch! Ich vergass alles, was ich sagen wollte und brabbelte ein: „Hi, this is my first time doing Drag“, heraus. Der erste Song begann. Ein Song über Männlichkeit, sozialen Druck und über das Patriarchat. Der Refrain erklang und das Publikum war begeistert. Nach und nach fand ich mehr Mut, zog mir die Kleider eins nach dem anderen vom Leib und mir wurde bewusst, dass ich gerade fürs Strippen bezahlt werde. Einem Outfit folgte das nächste, während ich versuchte, meinen Text nicht zu vergessen.

Dann war der erste Song vorbei. Die Melodie des zweiten Liedes begann zu spielen, da fragte ich das Publikum: „Do you also feel like it‘s really hot in here?“ Daraufhin drehte ich mich um und zog das letzte Oberteil aus. Ich stellte mir die Reaktion der Zuschauenden auf die letzte Überraschung vor und freute mich, dass der Kleber die ganze Zeit gehalten hat. Als ich mich umdrehte, durchfuhr eine Mischung aus Lachern und Jubel den Raum. Der zweite Song hiess nämlich „Need for Seed“ und handelt von Sonnenblumen, Gänseblümchen und weiteren Blumen. Doch ich sang nicht nur „Sunflowers“, sondern hatte mir eine Stunde zuvor auch künstliche Sonnenblumen auf die Brüste geklebt. Ob sie halten würden, wusste ich erst nicht. Doch sie taten es. Und damit war die grösste Sorge verpufft und ich konnte mich auf den Rest der Show konzentrieren. Der Rest des Abends verlief wunderbar. Die Reaktionen des Publikums waren positiv und es wurde getrunken, getanzt, gelacht und gesungen. Auch die anderen legten auf der Bühne einzigartige Shows hin.

Nach dem Auftritt wurde die Kollekte eingesammelt. Viel war es nicht und ausserdem wurde es an alle Dragperformer*innen, die an diesem Abend auf der Bühne waren, aufgeteilt. Ich bekam sechs Euro und zehn Cent. All diese Menschen, welche unzählige Stunden an ihren Kostümen sassen, sich geschminkt haben, ihren Tanz übten, die Stimme einwärmten und immer wieder probten, erhielten ein Trinkgeld, mit dem sie nicht mal ihren Lidschatten finanzieren können. Und doch waren alle glücklich darüber, überhaupt Einnahmen gemacht zu haben. Es war ein wunderbares Gefühl und ich bin stolz, Teil des Abendprogramms gewesen zu sein.

Ich hatte eine wunderbare Nacht und möchte noch öfter als „Lusty Lotti“, „Lotti Lotti“ oder „Licking Lotti“ auftreten. Oder Lila Lotti? Wer noch Ideen für einen Namen hat, darf sich gerne bei mir melden: contact@lottilotti.com oder an lotti.lotti.lotti auf Instagram.


Foto: Yannick Bellotto, Animation: Pia Zibulski


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