Illustration: Pia Zibulski
Ich kenne Menschen, die können Stunden auf Youtube verbringen. Wer sich zu diesen zählt, weiss wie schnell die Zeit vergeht, wenn Video um Video verführerisch in den Recommendations am rechten Bildrand auftaucht. Wer Stunden auf Youtube verbringt, weiss auch, was für einen thematischen Höllenritt die Algorithmen uns bescheren können: Vom Rezept für «Kürbissuppe mit Knuspersalbei» zum Clip eines Mädchens, das sich ihre Tränen mit einem Hamster abwischt, ist es nicht weit.
Ich bin nicht wirklich der Youtube-Mensch. Trotzdem gebe ich den Algorithmen die Schuld, wenn ich Zeit im Internet vertrödel. Kürzlich verbrachte ich eine ganze Mittagspause damit, die offizielle IMDb-Rangliste der «20 Hottest Actor Jawlines» zu studieren und hatte dabei zwei Erkenntnisse. Erstens: Für alles gibt es Ranglisten. Auch dafür, welcher Sunnyboy in welchem Film seinen Kiefer am schönsten zusammenpresst. Zweitens wurde mir bewusst, wie verkrampft die Kiefermuskulatur der meisten jungen Männer vom andauernden Anspannen ihrer Jawline sein muss.
Denn jedes Mal, wenn ich mit Freund*innen unterwegs bin, passiert es. Sobald jemand ein Handy, oder noch besser, eine Analog-Kamera zückt, geht das Posen los. Die Person an der Kamera hingegen versucht alle dazu zu bringen, sich ganz natürlich – «genau so, wie ihr vorher wart» – zu positionieren. Doch sobald dieser Satz fällt, ist es schon zu spät: In unangenehmer Stille wird verkrampft gelächelt, jemand kann es nicht lassen, das Gesicht mit den Händen zu verdecken und ein anderer hat immer die Augen geschlossen. Zum Glück macht das iPhone Serienfotos und entscheidet gleich selbst, welches das beste Bild ist. Effortless, also ohne Aufwand oder verkrampfte Pose gut auszusehen, bleibt dennoch die grosse Kunst. Das kann uns das Gerät nicht abnehmen.
Deshalb: Den Kopf leicht schief legen, das Kinn nach vorne strecken, Backenzähne zusammenpressen. Sie ist leicht halsverrenkend, diese Pose, aber lässt laut Internet aus einer sanften Kiefer-Linie eine alles zermalmende Jawline werden. Kein Wunder findet sie sich hundertfach auf dem Smartphone jedes 18-Jährigen. Auch auf meinem. Einen Tipp vergisst das Internet jedoch: Den Kiefer nach dem Fotografieren wieder entspannen. Beugt Muskelkater vor und verhindert, dass du wie ein Arschloch wirkst.
Dank dieser vertrödelten Mittagspause weiss ich übrigens auch, was ich meinem 15-jährigen Ich gerne sagen würde: Mach dir keine Sorgen. Die Jawline kommt von alleine. Als Daniel Radcliffe gleich alt war und im dritten Harry-Potter-Film spielte, hätte nie jemand über seine schwache Jawline gelästert. Inzwischen ist er auf Platz drei der «20 Hottest Actor Jawlines». Vielleicht war da aber auch Magie im Spiel.
Trotz offizieller IMDb Ranglisten: Ich denke, dass Jawlines wie alle anderen Posen nur eine Phase sind. Inzwischen kommt ja auch niemand mehr auf die Idee ein Duckface zu machen. Vielleicht sollte man Jawlines auch Hollywood überlassen. Stell dir mal vor, auf dem neuen Regierungsrats-Foto würden alle ihre Kiefer in die Kamera strecken.
Jedem Alter seine Pose – auf Kinderfotos erkennt man mich daran, dass ich immer dasselbe leicht schiefe Grinsen auf dem Gesicht habe. Ich stelle mir vor wie ich in vielen Jahren auf ein Teenie-Foto von mir zeige und sage: «Dort hinten links, das bin ich. Ja genau, der mit den roten Haaren, der sich für seine Jawline fast den Hals verrenkt.»
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