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  • AutorenbildJuno Peter

Neustart? Nein, Danke.



GIF: Pia Zibulski



Es ist kurz nach Mitternacht und ich sitze an meinem Schreibtisch. Es liegen ein paar Dinge auf dem Boden rum, die noch keinen Platz in meinem neuen Zimmer gefunden haben und im Hintergrund höre ich, wie die Stimme im Podcast von “Neustart” und “wie gut das für die Mentale Gesundheit ist” redet. Ich höre noch etwas zu, schalte dann den Podcast aus und zünde mir eine Zigarette an. Es ist lächerlich, wie wütend mich diese Aussage macht.


Vor knapp zwei Wochen bin ich aus Hildesheim nach Hamburg gezogen und man* könnte sagen, dass ich mich inmitten eines Neustarts befinde. Neue Stadt, neue Wohnung, unbekanntes Umfeld und kein Freundeskreis. Der Podcaster würde das wohl als “unglaubliche Chance, um dich neu zu erfinden” bezeichnen oder “um wieder von Null anzufangen”– ich finde es einfach nur zum Kotzen anstrengend. Es besteht eine unglaublich romantisierte Vorstellung von einem Neustart in den Köpfen der Menschen. Sie sehen all die neuen Möglichkeiten, die Schönheit im Unbekannten. Die verblümte Vorstellung, in einer Metropole zu leben, lässt es nicht zu, dass auch nur ein Gedanke an die harte Realität verschwendet wird.


So ein Neustart ist extrem anstrengend. Alles ist energieraubend und fordert eine*n bis zum Äussersten. Besonders wenn man*, wie in meinem Fall, innerhalb von 12 Monaten drei Mal wieder “von vorne” anfangen muss. Ich habe die Schnauze voll davon, immer neu an einem Ort zu sein und jedes Prozent der wenigen Energie, die ich als depressive Person aufbringen kann, darauf zu verwenden, Menschen kennenzulernen, damit ich nicht komplett vereinsame. Es ist kaum vorstellbar, wie sehr ich mich nach vertrauten Gesichtern und Strassen sehne. Wie sehr ich mir wieder einen Freundeskreis wünsche oder einfach eine Person, die mir nahesteht, mich kennt und nicht 900 Kilometer weit weg wohnt. Es erfordert enorm viel Kraft, an einem neuen Ort anzukommen und Fuss zu fassen. Wobei ich mir manchmal nicht sicher bin, woher eine Person mit einer psychischen Krankheit diese Kraft nehmen soll.


Solche Aussagen, wie sie die Person in diesem Podcast getroffen hat, die diese Situationen romantisieren und sogar für eine “bessere Mental Health” empfehlen, ohne die Schwierigkeiten zu erwähnen oder die negativen Aspekte zu beleuchten, machen mich rasend. Sie promoten einen Neustart, als wäre nichts dabei. Nicht zuletzt, weil sie viel Geld haben und sich an tropische Orte absetzen. Ihre Probleme können sie mit ihrem Geld und dem milden Klima ihrer neuen Heimat lösen. Sie fühlen sich glücklicher und ausgeglichener, aber wie ich mich seit meinem Umzug fühle, ist gestresst, traurig und allein.


Schon nur wie schwierig es ist, einen neuen Therapieplatz zu finden, sollte erwähnt werden. Es fordert Energie, Zeit und Durchhaltevermögen– Dinge, die genau Personen, die auf Therapie angewiesen sind, oftmals einfach nicht haben. Solche Aspekte gehen schnell vergessen in den fantastischen Vorstellungen, die mit einem Neustart oft einhergehen. Die Wahrheit ist aber: Die meisten Probleme, die man* hat, werden sich durch einen Umzug in eine neue Stadt oder ein anderes Land nicht einfach in Luft auflösen. Ohne richtige Aufarbeitung holt einen alles irgendwann wieder ein.


Natürlich will ich nicht ungesagt lassen, dass ich diesen Text in einer privilegierten Situation schreibe: Mein Umzug war selbst gewählt, damit ich in der Stadt, in der ich schon immer mal leben wollte, meinen Traum-Studiengang beginnen kann. Solche Aussagen, wie sie in diesem Podcast fallen, kann ich als Betroffene aber nicht einfach unkommentiert lassen. Und wenn ich ehrlich bin, tut es auch einfach gut, meine Wut auf solche Influencer*innen Podcasts in schriftlicher Form mal rauszulassen. Den Podcast habe ich jetzt auf jeden Fall aus meinem Profil gelöscht.


Heute verabschiede ich mich mal ohne das obligatorische alkoholische Getränk, denn ich probiere mir abzugewöhnen, alleine zu trinken. Ich stosse euch mit einer imaginären Fritz Kola zu.


Chin-Chin!



GIF: Pia Zibulski

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