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  • AutorenbildJohannes Runge

Verkappter Disneyfilm oder Horror-Reminiszenz? Review: Last Night in Soho

An vielen ist der Film beim Kinorelease etwas vorbeigegangen. Und obwohl ich Last Night in Soho als Fan von Edgar Wright auf dem Schirm hatte, verpasste ich ihn ebenfalls im Kino und habe ihn nun endlich nachgeholt.


Einführung


Wie nach dem Trailer (© Focus Feautures) bereits zu erwarten war, entzieht sich Last Night in Soho etwas den Normen der bisherigen Filmografie von Wright, dem zweitgrössten Filmnerd aus Hollywood. Der grösste ist natürlich – auch durch seinen Erfolg – Quentin Tarantino. Der alte Herr mit den blutigen Filmzitaten und Genre-Grosswerken lieferte allerdings zuletzt eine in meinen Augen zwar unterhaltsame und hervorragend inszenierte, aber auch einschläfernd unemotionale Nostalgie-Schlaftablette mit sage und schreibe 161 Minuten Laufzeit. Auch wenn der Vergleich ein wenig an den Haaren herbeigezogen ist: Im Gegensatz zu Once Upon a Time in Hollywood ist Last Night in Soho ein stringenter, eleganter Film, der weniger in seinen Nostalgietrips badet und der Reminiszenz einen eigenen Spin gibt. Wright gibt sich hier natürlich abermals dem Genrekino hin, diesmal aber weiter vom Comedy- oder Actionkino entfernt denn je.


What's it about


Die junge Eloise, hervorragend gespielt von Thomasin McKenzie, beginnt ihr neues aufregendes Leben als Modestudentin im düsteren London der 60er Jahre. Sie ist die klassischste Protagonistin eines Coming of Age Horrorfilms, die Mensch sich vorstellen könnte. Immer etwas anders als die anderen gewesen, eher ruhig: ein Mauerblümchen. Natürlich kann sie sich nur schwer in die Welt oberflächlicher Modeprinzessinen einleben, so stellt es Edgar Wright dar. Bald schon nimmt sie einen Job in einer Bar an, um dem Studentinnen-Wohnheim entfliehen zu können und zieht als Untermieterin bei einer mysteriösen älteren Dame ein. Die Geschichte kommt so richtig ins Rollen, als sie beginnt, erschreckend reale Träume von einer vergangen Zeit zu bekommen, die mutmasslich durch dieses Zimmer ausgelöst werden.


Seine Zweiweltenerzählung macht den Film auch tatsächlich so konstant faszinierend. Natürlich ist das alles schon oft genug erzählt worden, ob koexistente Welten oder Flucht in die Fantasie. Da liessen sich verschiedenste Parallelen ziehen: Ob Narnia, Alice im Wunderland oder weniger klassisch aber in seiner nostalgischen Ader ähnlich: Midnight in Paris. Besonders zu Beginn scheint die Welt, in welche Eloise eintaucht, für sie viel heiler als die reale Welt. Sie ist selbstbewusst, schön, elegant und wird erobert.



Genrefluide Nostalgie trifft auf modernen Inhalt


Last Night in Soho Review
Bild von Viral-Illustratorin Pia Zibulski

Ohne zu viel zu verraten, wird der Film aber immer düsterer und driftet nach und nach vom Märchen und Coming of Age Drama in den phantastischen und realen Horror. Mit steigendem Ernst werden auch die bereits gezeigten Genderklischees kritisch hinterfragt. Nicht umsonst sind sie sogar ausschlaggebend für die Ängste, welche hier in den teilweise Giallo-inspirierten Gruselpassagen behandelt werden. Perverse cis Männer sind der wahre Horror, der hinter den Londoner Gassen lauert. Es gibt aber auch ein heimgesuchtes Haus, mysteriöse Vorkommnisse, Slasherpassagen, Geister und alles, was zum klassischen Horror dazugehört. Hier kommt der eigene Spin zum Tragen, von dem ich anfangs schrieb. Edgar Wright verwebt elegant den Genrefilm, die Nostalgie und das moderne Gedankengut zu einem sehr runden, neonglänzenden Film. Das Licht, die Kulissen, die wunderschönen Kamerafahrten und die für Edgar Wright typischen, auf den Punkt getroffenen Musikschnitte machen den Film inszenatorisch zu einem exquisiten Kunstwerk. Einzig die später im Film auftretenden Geister sind ein Effekt-Reinfall. Zwar mag der ansatzweise plastikhafte Look in manchen Momenten ästhetisch stören. In Verbindung mit dem Inhalt konnte ich diesem Kaugummi-Glamour allerdings doch Gutes abgewinnen:



Gebrochene Disney-Ästhetik und Storynormen


Schliesslich gleicht die Geschichte von Eloise besonders im ersten Drittel einem Märchenfilm. Nicht einem Brüder-Grimm-Märchen, sondern einem komplett mit Heile-Welt-Farbe angemalten Disney Kinderfilm. Und genau diese Welt wird nach und nach immer härter gebrochen. Die Gewaltakte und Gruselmomente scheinen nicht in die nostalgisch beflügelte aber irgendwie künstliche Darstellung zu passen. Es wirkt abstrus, aber es ist ein Aufwachen aus dem "alles ist schön". Gekoppelt mit den ideologisch schwierigen Themen des Anfangs, deren Falschheit später ohne Blatt vor der Kamera gezeigt wird, entsteht ein ironischer Touch, der die Blindheit vieler Gesellschaftsstrukturen offenlegt.


Wer jetzt verzweifelt nach der Düsternis von Londoner Gassen und halbschattig mit Neonlicht beschienen Schauplätzen schreit, die der Film in gewisser Weise verspricht, der muss noch nicht enttäuscht das Interesse fallen lassen. Auch diese Ästhetik wird hervorragend und exzessiv bedient. Den Plastiklook und die Künstlichkeit sehen wir hauptsächlich in den fantastischen Momenten.



Fazit


Last Night in Soho ist ein wundervoller Film, der vieles auf einmal ist und sein darf. Mich beeindruckt dies immer sehr, besonders wenn das Werk am Schluss trotzdem aus einem Guss daherkommt und alle Zahnräder ineinandergreifen. Audiovisuell, des flowigen Schnittes und des Soundtracks wegen ist der Streifen wunderbar konsumierbar, während er gleichzeitig über Oberflächen hinaus einen gehaltvollen Subtext liefert. Edgar Wright hat mich positiv überrascht und einen besonderen Film erschaffen, der für mich mit zu den besten des letzten Jahres zählt.




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